Ausgewählte Neueingänge:
Noëlle Roger: Le Chercheur d’Ondes (1931)
Noëlle Roger ist das Pseudonym der Genfer Autorin Hélène
Dufour-Pittard (1874-1953), die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter
anderem einige negative Utopien schrieb (heute würde man sagen: Dystopien). Die
Geschichte «Der unsichtbare Gefährte» ist auch auf Deutsch erschienen (mit
bestem Dank an Mirko Schädel:
). «Le livre qui fait mourir» (1927) und «Le Chercheur d’Ondes» (1931) haben
darüber hinaus mit kriminellen Taten zu tun. Letzteres habe ich nun gelesen.
Information zum Buch:
Der Schriftsteller Jean Lanouze steht als Zeuge in einem
Mordfall in Paris vor Gericht. Sein Bekannter Bourlat hat einen Kritiker
getötet, der Lanouze ein Plagiat vorwirft. Der Mörder, der den Revolver von
Lanouze bei sich hatte, kann sich an nichts erinnern. Bourlat wird
gnädigerweise nur zu zehn Jahren Haft (und nicht zum Tode) verurteilt, kommt
aber nach einer Begnadigung nach vier Jahren frei. Allerdings ist sein Leben zerstört.
Lanouze trifft inzwischen seine Jugendbekannte Claudie und
ihren Mann Gérard Daurelle und verliebt sich erneut in die Frau. «Elle avait une façon de se taire
qui permettait aux paroles de prolonger leurs résonances intérieures.” Gérard
erkrankt an einer schweren Depression, und Lanouze kümmert sich um Claudie. Als
sich Gérard erhängt, wendet sich Claudie auch von Lanouze ab.
Dann taucht plötzlich Zambru, ein ehemaliger Schulkollege,
auf. Er behauptet, einen Apparat entwickelt zu haben, der Gedanken lesen und
sie verstärkt zurücksenden könne. Er probiert ihn an Lanouze aus. Eine
geheimnisvolle Substanz namens «Sodium» wirkt als Verstärkerelement.
Bald jedoch wird Zambru wegen eines Zwischenfalls verhaftet,
und der Apparat gerät in die Hände des Ingenieurs Raoul Perrière, der ihn nach
Genf mitnimmt, um dort die Abrüstungsversammlung im Völkerbundpalast negativ zu
beeinflussen. Ganz klar: Er will die Weltherrschaft. Und leider sind die guten
Gedanken schwieriger aufzunehmen als die schlechten. Im letzten Moment
erscheint der Geist von Zambru im Genfer Hotelzimmer, und Perrière zerstört das
Gerät.
Lanouze will als Zambrus Chronist die ganze Geschichte
aufschreiben, als ihn Bourlat stört, der in Lanouze den Verantwortlichen für
seinen Mord sieht und sich rächen will. Lanouze ruft mit konzentrierten
Gedanken Zambru zu Hilfe und kann Bourlat beruhigen.
Als Lanouze seinen Bericht zu Ende geschrieben hat, sucht er
Zambru auf, der jedoch bereits in den Himalaya abgereist ist. Der gemeinsame
Bekannte Chavorin hat den Auftrag, die Apparate zu vernichten, falls Zambru
nicht zurückkehrt.
Im letzten Satz taucht Claudie an der Schwelle zu Lanouzes Wohnung auf.
Emmy Moor
Emmy
Moor war bekannt für ihre Sozialreportagen, insbesondere als
Gerichtsberichterstatterin. „Der Gerichtssaal spricht“ (1944) ist „eine Chronik
aus der Wirklichkeit. … Ihr ‚Held‘ ist ein sehr anfechtbarer Held. Es ist der
Kriminelle.“ Die Autorin schaut hinter die Kulissen der verhandelten Fälle. Sie
beschäftigt sich mit dem Menschen, dessen Leben eine unrühmliche Wendung
genommen hat. Immer wieder spürt man die Sympathie für die vom Schicksal
Gebeutelten. Moor spricht von schwieriger Jugend (Verdingkindern), von
Vernachlässigung, Ungerechtigkeit und Not als Antrieb für ein Verbrechen.
„Unsere moralische Entrüstung hat nur das eine Häkchen, dass die sogenannten
Opfer dieser Leute, die Viehhändler und Krämer aus der anständigen Oberwelt,
die hier in die Hände dieser räuberischen Zuhälter, Erpresser und käuflichen
Mädchen gefallen sind, zu den braven Leuten gehören, die sich das Laster nach
Bedarf kaufen können, ohne an ihrer moralischen und sonstigen Reputation etwas
einzubüssen. Hier haben sie nur das eine Pech gehabt, ihre dicken Brieftaschen
in den Händen amoralischer Zuhälter zu verlieren.“
Ein
Einblick in die frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
Leo Lapaire
In Leo Lapaires Krimi „Narren am Werk“ (1940) versammeln sich in der Rue Blondel 7 in Paris eine Anzahl von Menschen, deren Leben sich in stets verdächtigerer Art und Weise ineinander verzahnen. Nicht genug, dass im Haus eine junge Frau erschossen worden ist, ohne dass ein Täter gefasst werden kann. Nun scheint sich weiteres Unheil zusammenzubrauen, ein Verbrechen wird geplant, dem die Polizei nicht auf die Schliche kommt, auch nicht mit der Mysterienbrigade, die zum Einsatz gelangt, wenn Okkultismus im Spiel sein könnte. So ergibt sich eine interessante Konstellation, die einen bedeutenden Teil der Handlung in der Schwebe hält.
Claude Roland
In „La balustrade“ (1973) von Claude Roland befragt in der Rahmenhandlung der Richter Fournier einen Pierre Voirol, der erst schweigt, am Ende aber umso beredsamer wird. Die eigentliche Geschichte beginnt mit einem Flugzeugabsturz im „Congo belge“. Fabienne Lecrest, „épouse Voirol“, erhält ein Telegramm, das den Tod von Herrn und Frau Voirol ankündigt. „Comment m’annoncer que je suis en même temps veuve et cocue?” In einem nach seinem Tod zu öffnenden Brief bekennt sich ihr Mann zum Mord an Fabiennes früherem Geliebten Gérard Monier, der bei einem Autorennen verstorben ist. Ein zweites Telegramm erklärt, die Eheleute Voirol seien wohlauf. Bald kommt Pierre Voirol mit seiner angeblichen Sekretärin Brigitte Duval nach Hause, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als Fabienne die beiden in flagranti im Ehebett erwischt. Seltsamerweise ist im mit inneren Monologen gespickten Text nie mehr vom Flugzeugabsturz die Rede. Hingegen stürzt Fabienne von der Balustrade in ihrem Haus zu Tode. Das Drama endet damit, dass Pierre Voirol nicht für den Mord verurteilt wird, den er begangen hat, sondern für den Todessturz, für den er keine Verantwortung trägt.
Edition Mordstage
Die Edition Mordstage hat sich zum Ziel gesetzt, bemerkenswerte Schweizer Kriminalromane neu aufzulegen. Auswahlkriterien sind die gattungsspezifische, literarische und/oder historische Bedeutung eines Textes.
Die Originaltexte werden durch ein literaturhistorisches Nachwort und durch biographische Texte sowie zugehörige Fotos ergänzt.
Die Edition Mordstage wird betreut von Paul Ott und Kurt Stadelmann.
Die bisher sind in der Reihe „Schweizer Texte“ und in der „Edition Mordstage“ erschienen Krimis sehen Sie unter folgendem Link: